Ein Frühlingsmorgen, einige Jahre vor meinem ersten Kontakt mit der Individualpsychologie von Alfred Adler. Ich sitze auf einer Bank am Waldrand. Mein Blick schweift über die vor mir liegenden Felder. Kleine Vögel ziehen meine Aufmerksamkeit auf sich. Mit hastigen Flügelschlägen überfliegen sie die Felder. Ihr Flug sieht anstrengend und hektisch aus. „Auch ich bin in meinem Leben oft so unterwegs“, geht es mir durch den Kopf.
Da gleitet ein grosser Schatten über den Boden. Beim Aufblicken sehe ich einen Rotmilan mit ausgestreckten Schwingen, der ohne einen einzigen Flügelschlag das Feld überfliegt. Ruhig, fokussiert und getragen vom Wind. Was für ein Potential, wenn ich meine Lebensflügel für einen solchen Flug nutzen kann! Das Bild vom dahingleitenden Greifvogel prägte sich tief ein. Beim Anblick dieser Vögel werde ich daran erinnert, meine Flügel zum Gleiten zu gebrauchen.
Auf Reisen durch Kanada und Alaska entstanden die Adlerbilder auf dieser Homepage. Im Verhalten der Adler finde ich diverse Impulse für mein Leben:
Durch heftiges Flügelschlagen erregt das Muttertier immer wieder ihre Jungen im Nest. Sie sollen sich dort nicht zu wohl fühlen und angeregt werden, ihre eigenen Flügel zu benutzen. Ist der Tag X gekommen, stösst die Mutter die Jungtiere aus dem Nest und fliegt dann unter ihnen. Werden die Flügel der Jungen müde, fängt sie sie mit ihren Schwingen auf und bringt sie zurück zum Nest.
Nutze ich meine Flügel / mein Potential, oder fühle ich mich in meinem Nest viel zu wohl? Wer ist für mich da, wenn meine Flügel müde werden?
Ein Adler spürt, wenn ein Sturm aufzieht. Er flieht nicht vor dem Sturm, sondern fliegt zu einem hoch gelegenen Ort und wartet. Trifft der Sturm ein, breitet der Adler seine Schwingen aus, so dass der Wind ihn aufnimmt und über den Sturm auffahren lässt. Er nutzt den Sturm, um höher zu gelangen.
Stürme gehören zum Leben. Lasse ich mich von ihnen zu Fall bringen oder nutze ich sie, um meine Flügel zu stärken, höher zu gelangen und eine neue Perspektive zu gewinnen?
Der Schnabel eines Adlers wächst unaufhaltsam, bis er so lange ist, dass das Tier keine Nahrung mehr zu sich nehmen kann. Ist dieser Zustand erreicht, hackt er seinen Schnabel so lange gegen einen Felsen, bis er abfällt und ein neuer Schnabel wachsen kann. Ohne Schnabel ist eine Nahrungsaufnahme unmöglich. Als Folge dessen verliert der Adler auch seine Federn. Wenn der Schnabel nachgewachsen ist und der Adler wieder Nahrung aufnehmen kann, wächst ihm ein neues Federkleid. Der alte Adler sieht dadurch wieder aus wie ein junger Adler.
Vieles, was ich mir im Leben angeeignet habe, ist gut, wichtig und richtig. Es gibt aber auch Muster und Gewohnheiten, die mit der Zeit gelingendes Leben stören oder gar verhindern. Bin ich bereit, meinen Schnabel gesund zu kürzen, um frei / jung zu werden für die vor mir liegende Lebensphase?
Die Individualpsychologische Beratung kann dabei helfen, die Spannweite der eigenen Flügel zu entdecken, sie wirklich zum Gleiten zu gebrauchen und gestärkt aus Lebensstürmen hervorzugehen. Dass der Begründer der Individualpsychologie zum Nachnamen Adler heisst, ist aus meiner Sicht ein stimmiger Zufall.